Geschichtsphilosophie
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Beitrag von ThWangenheim Mi Dez 21, 2016 10:05 pm

Kommentra zum 1. Kapitel aus meinem Booklet zum Hörbuch: "Der Mensch und die Technik"

Die Dichotomie zwischen Idealismus und Materialismus, die das erste Kapitel prägt, ist – wie Spengler selbst andeutet – ein wesentlich klareres Gegensatzpaar als man dem Text zunächst entnehmen kann. Die Idealisten, die Ewiggestrigen, für welche Poesie und Kunst alles übrige ausstechen, was an Praktischem, Lebensnotwendigem im Dasein steckt, und die deshalb im Zeitalter der Maschinentechnik mit größter Anteilnahme den Blick in die Vergangenheit richten, sind zweifellos Idealisierer eines Zustandes der Vergangenheit.

Daß Spengler jedoch im Anschluß die andere Seite, die Fortschrittsphilister, zuallererst Materialisten nennt, verunklart den entscheidenden Punkt. Denn sehr berechtigt, aber letztlich ohne Folgen, fällt im Zusammenhang mit ihnen ein entscheidender Nebensatz: ...wird nun ein Bild der Zukunft entworfen, die ewige Seligkeit auf Erden, ein Endziel und Dauerzustand [...] – in bedenklichem Widerspruch zum Begriff des Fortschritts, der den „Zustand“ ausschließt. Was aber bedeutet das? Nichts anderes als eine vollständige Symmetrie der Haltungen von Idealist und Materialist, die daher besser Idealisten der Historie und Idealisten der Zukunft geheißen hätten. Die einen himmeln einen erträumten gewesenen Zustand an, die anderen einen erträumten kommenden. Das ist die entscheidende und klare Symmetrie, die hier vorliegt. Aus dieser Perspektive wird auch erklärlich, wie konsequent der Schluß Spenglers ausfällt, wenn es heißt: Beide Ansichten sind heute veraltet. [...] An die Stelle des „So soll es sein“ [...] tritt das unerbittliche: So ist es. [...] Wir haben gelernt, daß Geschichte etwas ist, das nicht im geringsten auf unsere Erwartungen Rücksicht nimmt.

Denn diese Haltung Spenglers ist nun zweifellos exakt die Mitte beider Anschauungen, der Tatsachensinn der Gegenwart, im scharfen Gegensatz zu den Schwärmereien in historischen und zukünftigen Idealisierungen.

Die Vermutung freilich, wir hätten tatsächlich gelernt, statt unserer Idealvorstellungen das Gegebene nüchtern zu analysieren, ist offenbar zu optimistisch ausgefallen. Das zeigt sich am eindrucksvollsten an dem retrospektiven Spaß, daß die folgende Passage in erstaunlich übereinstimmender Weise heute beim Blick zurück auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts noch genauso gilt, wie Spengler es für das 19. meinte: Auf der andern Seite stand der Materialismus von wesentlich englischer Herkunft, die große Mode der Halbgebildeten in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, der liberalen Feuilletons und radikalen Volksversammlungen, der Marxisten und der sozialethischen Schriftsteller, die sich für Dichter und Denker hielten.
Ernsthafter dagegen ist, was uns heute aus der Schlußbetrachtung über die Materialisten schmerzlich im Halse stecken bleibt: Kein Krieg mehr, kein Unterschied von Rassen, Völkern, Staaten, Religionen, keine Verbrecher und Abenteurer, keine Konflikte infolge von Überlegenheit und Anderssein, kein Haß, keine Rache mehr [...]. Solche Albernheiten lassen noch heute, wo wir die Endphasen dieses trivialen Optimismus erleben, mit Grauen an die entsetzliche Langeweile denken [...], die sich beim Lesen solcher Idyllen über die Seele breitet und in Wirklichkeit bei auch nur teilweiser Verwirklichung zu massenhaftem Mord und Selbstmord führen würde.

Auch diese Endphase ist, wie alle Phasen es tun, wiedergekehrt. Und wir wollen hoffen, daß sich noch einmal verhindern lasse, daß dergleichen Grauen verwirklicht wird.

ThWangenheim
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