Geschichtsphilosophie
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Beitrag von Leser So Aug 13, 2017 4:16 pm

Gleich das zweite Fragment aus den Urfragen - ich habe mich nun derer angenommen - gibt der fehlenden Stringenz, die Sie beobachtet haben, den Ariadnefaden zurück in die Hand. Lesen Sie es mal nach.

Besonders markant jenes "Ich habe im 'Untergang des Abendlandes' die Formlehre gegeben. Ich gebe hier die Geschichte selbst". Das hätte uns wohlmöglich erwartet, wenn es zu einer Vollendung gekommen wäre. Keine Schwächen. Nur Tatsachen. Ich sehe förmlich Ihr Lieblingsportrait bei diesem Satze blicken - "Ich gebe hier die Geschichte selbst".

Aber auch: "Weltgeschichte ist Staats-, Kriegs-, Machtgeschichte ..." möchte ich hervorgehoben wissen. Denn das schließt unmittelbar an den Verfahrensbegriff aus MuT an. Technik ist schließlich ein doppelt belegter Begriff. Einmal weltgeschichtlich umfasst er alle seelisch gewachsenen Lebenstaktiken aller Hochkulturen ("Eco-Types" wenn man so will), also wie Krieg geführt, wie Macht geübt wird (durch die spezifische Organisation der Hände durch das waltende Befehlen, die Kommunikation also) und dann ist die Maschinentechnik eine einzelne Form dieses Verfahrens, die ausschließlich faustische Art des Willens zur Macht.

Die Tragik des letzten Kapitels steht - das wäre die spenglersche Konsequenz - der Tragik früherer Kulturen in Nichts nacht. Da gibt Fragment 3 eine allgemeine Formel ab: "'Weltgeschichte' ist Austrag eines unlösbaren Konfliktes zwischen Seele und Geist, ein Bild seelischer Zerrissenheit, ein hoffnungsloser, selbstzerstörerischer Kampf innersten Seelenlebens"... Und MuT nennt uns die spezifische Form dieses Gegensatzes: Wikinger des Blutes und des Geistes. .. auch dazu Fragment 3 "nicht Religionen, Kirchen sind weltgeschichtlich, nicht die Erfinder, sondern die politischen, wirtschaftlichen Verwerter der Erfindungen"

Ich würde daher schließen, dass das erste Kapitel so verlegen gar nicht sei. Bloß führt er den Leser ein in den Umfang des Technikbegriffs, der zum Verständnis nötig sei. Er schärft den Lesersinn - primär den zeitgenössigen, von der Maschinentechnik aufgebrauchten Leser, dem technologischen Darwinisten, für welchen Spengler ja ganz besondere Vorliebe hatte.

Schließlich ja die ganze Pointe darin besteht, dass die Entwicklung der Menschenseele - nachdem von der Tierseele bereits deutlich geschieden - in jeder Hochkultur vermittels der wohl verschieden gearteten Überlebenstechnik verschiedene Seelentypen hervorruft, wie schon in den voherigen Absätzen angedeutet und nun einmal mehr mit dem wichtigen Seelenentwicklungsthema ab Kapitel 2 in Verbindung gebracht werden soll.

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Beitrag von Leser So Aug 13, 2017 4:45 pm

Zusatz zur Formel aus Fragment 3 ("Weltgeschichte ist Austrag..."):
Diese Aussage ist natürlich sehr extrem. Denn sie impliziert ja einen totalen Egoismus der einzelnen Urseelen, weshalb es für Spengler auch nie in den Sinn käme, den Kampf der Widersätze  im Abendland qualitativ hochwertiger zu sehen, als bei anderen. Er sagt lediglich in MuT, dass der Widersatz von Blut und Geist am stärksten hervortritt, dass die Urstände am schlimmsten den Weg der Selbstzersörung gehen - oder was das gleiche ist: Sie reißen ein größeres Umfeld in den persönlichen, egoistischen Kampf. Nämlich den ganzen Erdball. Aber das ist keine neue Qualität, sondern bloßes Oberflächenphänomen. So wie am Ende Alles Oberflächenphänomen vor den Tatsachen kosmischer Zeiten wird.

Ich meine hier auch ein Denkgeheimnis Spengler ganz dunkel und verworren nachzufühlen. Man muss den nihilistischen Realismus Spenglers - jene absolute Relativierung des Menschenschicksals als Unfreiheit in den Rhythmen makrokosmischer Gewalten und Versuchung  der Trotzung - als fundamentales Gefühl in sich festhalten und von dort aus jeden Denkschritt nacherleben, um zu verstehen, wie Spengler seinen Tatsachensinn für Politik und Wirtschaft als die alleinigen Triebfedern, den Störmungen des Willens zur Macht ("und nichts außerdem") entdecken konnte... (Ich beziehe hier ein paar Gedanken zu Ihrer Feststellung zum Wunderkind Spengler und seinem "Ich beneide jeden, der lebt") ... Freilich ist diese absolute Entkopplung von allem "außerdem" eine Art Askese, wie sie nun sein nihilistische Standpunkt fordert.

Echtes Lebendigsein gibt es für Spengler nicht. Denn Lebendigkeit in höchster Form bedeutet ein Minimum an Wachsein. Nur das Daseiende ist absolut lebendig, jedes Wachsein schränkt das bewußtlose träumlerische Dasein ein. Es gibt natürlich auch eine Menge mehr zurück. Die Pflanze ist aber relativ gesehen lebendiger als das frei bewegliche Leben. Nun ist Spengler ein Mensch äußerster Gehirnspannung und dies über sein ganzes schriftstellerisches Dasein über. Keine Oberflächen, keine gewollten Schiefblicke. Nur Tatsachen. Aber nur Tatsachen bedeutet eben nicht wirklich leben können. Das ist ganz nach Nietzsche gedacht - der Wissende braucht die narkotische Medizin ("Fröhliche Wissenschaft"), um seinen eigenen Standpunkt auch nur auszuhalten. Aber eher noch tendiert das Leben zum Nicht-Wissen-Wollen. Die Pflanze weiß gar nichts und ist deshalb die Lebendingste.

Und das ist der tiefe Witz auch von MuT. Taktik haben, sich frei bewegen müssen (nicht können!) geht immer mit einer gewalttätigen Abtrennung vom Urganzen einher. Der Machtrausch ist ein matter Ersatz vor der dominanten Unlust des Schicksal-sein-müssens. Das ist, wie Sie in anderer Hinsicht über Kultur und IQ sagten, der Zwang, ohne welchen alle höheren Formen  sofort auf ein energetisches Minimum fallen würde. Ähnlich den Sprüngen der Elektronen bei Energiezu. und abfuhr. Es ist daher nur ersichtlich, dass alles ursprüngliche Nachdenken immer ein Kaschieren der eigentlich wirkmächtigeren Unlust gewesen ist, bis endlich selbst das Wachsein Quelle der Unlust wird (durch skeptizistische Philosophie, durch Nihilismus), wenn auch nur in den ganz verkünstelten Weltstädten, den physisch schmerzlosesten Orten, wo der fehlende Körperschmerz in rein gehirnmäßigen Nervenschmerz entartet.

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Beitrag von ThWangenheim Di Aug 15, 2017 11:53 am

"Lesen Sie es mal nach"... das ist gar nicht so einfach. Also, wenn man das Buch nicht besitzt. Eine Schande, ich weiß. Vor ein paar Jahren habe ich in der Bibliothek darin gestöbert und aufgrund der umgeworfenen Gesamtanschauungen (mir schien die Zyklik aufgegeben zu sein - wie ja auch in MuT) wieder beiseitie gelegt.

Aber nun werde ich mal danach greifen. Es gehört einfach ins Bücherregal.

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Beitrag von Leser Di Aug 15, 2017 10:06 pm

Abhilfe schafft diieser Link

Was meinen Sie mit umgeworfener Gesamtanschauung? Die scheint ja gerade in seinem Senat der Kulturen zu fehlen. Wenn es z.B. heißt "Ich habe im ›Untergang des Abendlandes‹ die Formlehre gegeben. Ich gebe hier die Geschichte selbst." so ist das eigentlich schon fast ein fraktal gemeinter Anspruch, nämlich die Formlehre der Altersstufen nun auf Weltgeschichte als Ganzes anzuwenden. Und nichts anderes tut Spengler in MuT. Weltgeschichte ist Auflehnung gegen die "Allnatur" wie es im Nachlass heißt. Sehr nach MuT. Und das Abendland steht innerhalb dieser Zyklik in der Hochzeit der Weltgeschichte. Sie schafft aber durch ihren nordischen Drang für das Extreme tatsächlich die Bedingungen für die Nachzeit ("matte Nachzügler), welche schleichend in Vorzeit wieder untergeht. Von Weltgeschichte wieder zurück zu bloßen Geschehnissen, wie er meint.


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Beitrag von ThWangenheim Do Aug 17, 2017 2:33 pm

Danke, für den Link, aber ich muß es mir als Buch besorgen.

Ich meine damit, daß der geschichtsphilosophische Gedanke der Zyklik von immer neuen Kulturen, die im Grunde gleichwertig sind, nun ja, nicht widerlegt, aber doch mit Stillschweigen übergangen wird. Seine Frühgeschichte ist ja eine Fortschrittsgeschichte. Ich habe gar nichts dagegen, denn es ist offensichtlich, daß der Mensch zunächst auf die Höhe der Kultur steigen mußte, um diese dann in verschiedenen Konzeptionen auszuführen. Aber in gewisser Weise ist das trivial.

Nicht konkret in all dem, was Spengler zu den Details dieses Fortschritts zu sagen hat, weshalb MuT eine hochinteressante Schrift ist. Damals aber, als ich mich mit der Geschichte der Hochkulturen befaßte, da empfand ich allein schon die Aufblähung der Stufen, die er hier vornimmt, als merkwürdigen Stilbruch. Wenn ich mich recht entsinne, gibt er in den Urfragen nun sechs oder acht Entwicklungsstufen an.

Aber Sie haben natürlich recht, wenn Sie den Zusammenhang mit unserer Diskussion hier über die Hüllkurve erkennen. Insofern ist das sehr richtig.

Da das Buch gerade nur sehr ungünstig zu erwerben ist, werde ich demnächst wohl doch Ihren Link studieren müssen.


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Beitrag von Leser Do Aug 17, 2017 10:08 pm

Machen Sie sich nicht die Mühe. Im Grunde sind das nicht die Urfragen. Aber das Buch "Urfragen" von Beck bindet zwei Fragmentsammlungen zusammen. Einmal "Frühzeit der Weltgeschichte" (das ist die Verlinkung) und dann aber den Nachlass unter dem Arbeitstitel "Urfragen". Worauf ich mich bezog, habe ich allerdings irrtümlich als die Urfragen gelesen. Ich könnte Ihnen einen 500mb Ordner übermitteln. Dann hätten Sie was Sie brauchen.

Die Fragmente lese ich sehr gespannt. Es geht um Feuer und Flammen, um Eis, Leben, Verzehrung, Seelen, Weltgeschichte... Man begreift auch wie viel Überlegen in dem so dunkel in MuT hingeworfenen Satz, wie das Feuer wohl auf die Seele des Menschen gewirkt haben sollte,  steckte. Weit bin ich bisher aber nicht gekommen.

Alles weitere zu meinem Angebot dann per Mail!

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Beitrag von ThWangenheim Fr Aug 18, 2017 6:55 pm

Sollte es sich bloß um zwei, drei Paragraphen handeln, auf die Sie aus sind, können Sie ja hier ein Bild hochladen. Ansonsten Antworte ich Ihnen, sobald ich ein Exemplar besitze.

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Beitrag von ThWangenheim So Aug 20, 2017 6:53 pm

Leser schrieb: Es ist daher nur ersichtlich, dass alles ursprüngliche Nachdenken immer ein Kaschieren der eigentlich wirkmächtigeren Unlust gewesen ist, bis endlich selbst das Wachsein Quelle der Unlust wird (durch skeptizistische Philosophie, durch Nihilismus)

Mir fällt gerade auf, daß Sie hier wohl auf den Schlußsatz aus dem Booklet zum Spengler-Hörbuch anspielen: "Philosophie ist Feigheit." Und ich denke, mit dieser Verallgemeinerung haben Sie vollauf recht. Feigheit vor dem Feind, dem Leben. Und doch notwendig und der eigentlich höhere Grund, weshalb dann der Feind, das Leben, beherrscht werden kann, nämlich indem man von der Kontemplation zur Lebendigkeit, zum Wachsein übergeht. (Auch hier ist übrigens eine fraktale Brechung beobachtbar, da man eine Stufe tiefer herabreichen kann: in einem erkennenden Sinne ist das Nachdenken über die Welt der eigentliche Schritt zum Wachsein, geistigem Wachsein, wogegen das Philosophieren gegenüber der Tatwelt Träumerei ist. Die Tat hingegen ist im philosophischen Sinne nicht wach, sehr wohl aber im Sinne der Welt.)

Denn auch hier ist das Changieren der Gemützustände essentiell: Und Sie beschreiben es selbst, obgleich Sie im zweiten Satzteil natürlich meinen, daß Unlust zur Quelle des Wachseins wird (außer Sie meinten gerade die fraktale Umkehr des Phänomens, wie in obiger Klammer beschrieben - das ist exakt das Problem der Umkehr der Zuschreibung von Phänomenen zu den Grundbegriffen, das im Schlußkapitel beschrieben ist). Genügend nihilistische Philosophie getrieben, und das Ergebnis ist der Tatmensch.

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